Schneller laufen, langsamer altern( 06.09.2002) Sie sind nicht mehr die Jüngsten. Aber schnell,
wurfgewaltig und ausdauernd. 4385 Senioren kämpften in Potsdam um Europameisterschaftsehren.
Mit jugendlichem Elan und Ehrgeiz. Vom Ehrgeiz befreit sind die 13. Europameisterschaften der Senioren
in Potsdam sicher nicht. Warum sollten sie auch? Auf der Zielgeraden werden
die letzten Reserven mobilisiert. Nur noch ein Versuch im Diskuswurf -
und ein martialischer Schrei. Siege werden mit jugendlicher Freude gefeiert.
Schließlich wetteifern hier Athleten darum, Europas Beste zu werden.
Und doch scheint sich mit zunehmendem Alter eine gewisse Gelassenheit gegenüber
Sieg und Niederlage einzustellen. Wie bei Nora Wedemo aus Schweden, der
ältesten Teilnehmerin in Potsdam. Die 89-Jährige kann gar nicht
mehr verlieren: Über 100 m und im Ku-gelstoß ist sie die einzige
Teilnehmerin in ihrer Altersklasse. Über 200 m und im Diskuswurf hat
sie Silber bereits vor dem Wettkampf sicher. Wenn sie sich ärgert,
dann über sich selbst, weil die Tagesform enttäuschend war. Mit
der Ruhe ihres fortgeschrittenen Alters legt sie sich die Kugel unters Kinn
und wuchtet sie hinaus auf 4,47 m. Ihre Betreuer, die schwedische Teamkapitänin
Elisabet Ekborg und der 91-jährige Eskil Bergquist, klatschen begeistert
Beifall. Die 89-Jährige selbst dagegen schüttelt den Kopf. Die
Kugel ist ihr über die Fingerkuppen gerutscht. "Kugelstoßen
mache ich noch nicht so lange. Ich muss die Technik noch verbessern." Das wird Robert Sattler, ältester Teilnehmer in Potsdam, ähnlich
sehen. Wenn man ihn den Diskus werfen sieht, mag man es kaum glauben: Der
Mann wird am 11. November 93 Jahre alt. Dann hat der Ludwigshafener gute
80 Jahre Leichtathletik hinter sich. Und nicht nur das: In jungen Jahren
war er ein passionierter Bergsteiger, hat das Matterhorn und den Mont Blanc
erklommen. Später dann so manchen Gipfel in der Seniorenleichtathletik.
25 Medaillen hat Robert Sattler seit 1977 in Göteborg gewonnen, als
er das erste Mal bei einer Seniorenweltmeisterschaft dabei war. Sein größtes
Erlebnis: die Weltmeisterschaften im südafrikanischen Durban 1997.
Auch für Potsdam hatte er sich Großes vorgenommen. Aber zunächst
ärgerte er sich über die Ausschreibung: "Hier muss ich als
über 90-Jähriger in der M85 antreten, gegen Leute, die acht Jahre
jünger sind. Da hat man ja gar keine Chance." Bei Weltmeisterschaften
sei das anders, da gingen die Fünfjahresklassen bis M95. Dann lacht
er. "Warum aufregen? In meiner Altersklasse haben wir eine tolle Kameradschaft
und Hilfsbereitschaft. Das ist wichtiger als Medaillen." Zumal er in
der M90 einer von zwei Startern gewesen wäre. Und von Wettkämpfen
ohne Konkurrenz hält er nichts: "Da ist ja der Witz weg."
Auch die anderen Unwägbarkeiten im Leben eines Athleten jenseits der
90 steckt er locker weg: Ja, die Anfahrt sei schon recht strapaziös
gewesen. Und im Hotel Mercure, wo er untergebracht sei, würde morgens
früh schon geklopft, gehämmert und gebohrt. Aber wer mit 16 Jahren
angefangen hat zu arbeiten und seinen Job als technischer Direktor einer
Maschinenfabrik erst mit 70 aufgegeben hat, den kann so etwas nicht aus
der Ruhe bringen. Senioren-Leichtathletik ist anstrengend. Nicht nur für Athleten, sondern auch für Zuschauer. Denn es ist schwierig, den Wettbewerben zu folgen, wenn an einem Tag 15 Finals über 300 und 400 m Hürden auf dem Zeitplan stehen. "Ist das jetzt der Endlauf in der M65?", fragt ein älterer Herr auf der Tribüne. "Nein", antwortet sein Nachbar, "der war schon. Das muss jetzt M60 sein." Ein anderer zückt das Programmheft und nickt. Recht haben sie. Das Finale der M65 ist gerade vorbei und der Zweitplatzierte, Dr. Günter Ortmanns, spricht schon mit ein paar Freunden über den Verlust seines Vorsprungs auf den letzten Metern. Und bestätigt die These von der größeren Gelassenheit bei den Älteren. "Ach, ich gönn' ihm den Sieg", sagt er, knurrt und grinst. Wenig später fällt der Startschuss für das 300-m-Hürden-Finale
bei den 60- bis 65-Jährigen. Schon nach der ersten Hürde ist klar:
Der Läufer auf Bahn drei wird gewinnen. Guido Müller von der LG
90 Kreis Ebersberg, Handelsvertreter für italienische Schuhe, überfliegt
förmlich die sieben Hindernisse. Nie hat man das Gefühl, dass
er straucheln könnte - so ausgefeilt wirkt seine Hürdentechnik.
Er selbst ist mit dem Lauf nicht ganz zufrieden. "Läuferisch
war's okay, hürdentechnisch nicht so doll," Er verlangt immer
noch viel von sich. Kein Wunder Schon seit seiner Jugend ist er Hürdenläufer.
Beinahe hätte er es zu den Olympischen Spielen in Tokio geschafft.
Fünfter war er 1964 im entscheidenden Lauf Vierter hätte er sein
müssen. 51,3 s stehen für ihn über 400 m Hür-den in
den Bestenlisten. In Potsdam gewinnt der 64-Jährige mit ausgezeichneten
43,22 s. Viereinhalb Sekunden vor dem Zweitplatzierten überquert er
die Zielli-nie. "Das liegt an der Schwäche der Gegner", erklärt
er seine Überlegenheit und fügt unbescheiden hinzu: "Seit
20 Jahren mache ich Senioren-Leichtathletik, und eigentlich habe ich immer
gewonnen." Dennoch sind in Potsdam einige von ihnen dabei. Wie Stefan Burkart aus der Schweiz, der in der Klasse M40 die 100 m in 10,92 s gewinnt, eigentlich 10,70 s laufen wollte, 1992 und 1996 bei Olympischen Spielen dabei war und immer noch den Bob des Schweizer Spitzenpiloten Fredi Steinmann anschiebt. Oder Ilona Briesenick. 22,45 m hat die Lokalmatadorin die 4 kg schwere Eisenkugel ein-mal gestoßen, am 17. Mai 1980 in eben diesem Stadion am Luftschiffhafen zu Potsdam. Das Gelände gehörte damals noch dem ASK Vorwärts Potsdam, einer der Talentschmieden der DDR. Ilona Briesenick hieß Ilona Siupianek und die Zeiten waren andere. Indes: Die 22,45 m sind immer noch deutscher Rekord. Dieses Mal wird die Olympiasiegerin von Moskau mit 11,85 m Zweite in der Klasse W45. Dass die Niederländerin Tine Schenkels ein wenig weiter stieß, ist an diesem Tag zweitrangig. "Das war mein erster Wettkampf seit vielen Jahren - und es hat Spaß gemacht." Toll sei es, viele alte Bekannte zu treffen. Die standen am Ring und feuerten die 45-Jährige begeistert an. Das ist auch ein paar Tage später nicht anders, als Ilona Briesenick erneut antritt. Dieses Mal im Diskuswurf. Zwar reicht es nur zu 34,32 m und Platz sechs, aber das tut der guten Stimmung keinen Abbruch. Diskus geworfen wird auf einer Wiese neben dem Stadion. Da, wo die Würstchenbuden stehen. Wo man im Biergarten sitzt und die entsprechende Seligkeit genießt. Dort steht Uwe Hohn und schaut den Diskuswerferinnen zu. Der Mann, der den alten Speer einmal 104,80 m weit warf, wundert sich: "Dass die Ilona hier antritt, überrascht mich schon." Er will und kann den Speer nicht noch einmal in die Hand nehmen und werfen. Auch nicht aus Jux und Dollerei. Der Bandscheibenschaden, den er sich 1984 im Trainingslager auf Kuba zugezogen hatte, lässt das nicht zu. "Das Kapitel ist abgeschlossen." Auch so manch anderen großen Athleten aus den glorreichen Zeiten des ASK Vorwärts Potsdam kann man an diesen Tagen leibhaftig treffen: Udo Beyer, den Kugelstoßolympiasieger von 1976, und Olaf Beyer, den Europameister von 1978 Ober 800 m. Der Kugel-Beyer schaute nur zu, der Läufer-Beyer startete in Potsdam über 800 m, musste aber verletzungsbedingt aussteigen. Nicht so Diana Gansky, Angestiftet von ihrer Freundin Petra Wersch hat die Weltmeisterschaftszweite von 1987 und Zweite der Olympischen Spiele von Seoul wieder zu den Metallscheiben gegriffen und großen Spaß gehabt, - im Training. Jetzt aber wird es ernst. "Nun gut das hier sind keine Olympischen Spiele, das sehe ich ganz locker", sagt sie. Aber eine Medaille soll's dann doch sein. Freundin Wersch hat's vorgemacht und in der W40 kurz zuvor Bronze geholt. Dafür hat sie mit ihren Disziplinkolleginnen so lange gebraucht dass die W35 mit Diana Gansky ins vom Flutlicht beleuchtete Stadion ausweichen müssen. Nichts ist's mit den Biertischen an der Wiese neben dem Stadion. Vor ihrem letzten Versuch liegt sie auf Rang zwei. Ihr einstiger Trainer Lothar Hillebrand steht am Geländer und weist per Zeichensprache auf Fehler hin. Fast so wie früher. Die Physiotherapeutin macht alles richtig; wirft 44,24 m und holt sich den Europameistertitel in der W35. Und die ganze alte Garde samt Anhang feiert. "Familienfest in Potsdam. Auferstanden aus Ruinen", kalauert ein Unbeteiligter. Ganz schön rüstig diese Ruinen. Quelle: Leichtathletik-Magazin www.leichtathletik.de |