Schneller laufen, langsamer altern

( 06.09.2002)­ Sie sind nicht mehr die Jüngsten. Aber schnell, wurfgewaltig und ausdauernd. 4385 Senioren kämpften in Potsdam um Europameisterschaftsehren. Mit jugendlichem Elan und Ehrgeiz.
Viele frühere Spitzenathleten, vor allem aus der ehemaligen DDR, trafen sich im Stadion am Luftschiffhafen in Potsdam. Die einen griffen in den Kampf um die Medaillen ein. Die anderen standen am Rand, schauten zu und gaben Tipps. Ein spezielles Déjà-vu-Erlebnis hatte Ilona Briesenick. Sie gewann mit der Kugel eine Silbermedaille in exakt dem Stadion, in dem sie vor mehr als zwölf Jahren mit 22,45 m Weltrekord gestoßen hatte. Anno 2002 kam sie noch auf 11,85 m.
Der Speerwerfer feuert seinen Beckengurt wütend auf den Rasen des Stadions am Luftschiffhafen. Ratlos blickt Freddy Goeffers zu seinem Anhang hinüber. Auch beim dritten Versuch will der Speer des Belgiers nicht so recht fliegen. Emotionen pur bei den Europameisterschaften der über 40-Jährigen in Potsdam. Thomas Straub feiert seinen Weitsprungsieg mit einem Jubelschrei, als hätte er gerade olympisches Gold geholt. Dem Schrei lässt der Athlet mit der extravaganten Sonnenbrille auf der Nase ein Tänzchen folgen.

Vom Ehrgeiz befreit sind die 13. Europameisterschaften der Senioren in Potsdam sicher nicht. Warum sollten sie auch? Auf der Zielgeraden werden die letzten Reserven mobilisiert. Nur noch ein Versuch im Diskuswurf - und ein martialischer Schrei. Siege werden mit jugendlicher Freude gefeiert. Schließlich wetteifern hier Athleten darum, Europas Beste zu werden. Und doch scheint sich mit zunehmendem Alter eine gewisse Gelassenheit gegenüber Sieg und Niederlage einzustellen. Wie bei Nora Wedemo aus Schweden, der ältesten Teilnehmerin in Potsdam. Die 89-Jährige kann gar nicht mehr verlieren: Über 100 m und im Ku-gelstoß ist sie die einzige Teilnehmerin in ihrer Altersklasse. Über 200 m und im Diskuswurf hat sie Silber bereits vor dem Wettkampf sicher. Wenn sie sich ärgert, dann über sich selbst, weil die Tagesform enttäuschend war. Mit der Ruhe ihres fortgeschrittenen Alters legt sie sich die Kugel unters Kinn und wuchtet sie hinaus auf 4,47 m. Ihre Betreuer, die schwedische Teamkapitänin Elisabet Ekborg und der 91-jährige Eskil Bergquist, klatschen begeistert Beifall. Die 89-Jährige selbst dagegen schüttelt den Kopf. Die Kugel ist ihr über die Fingerkuppen gerutscht. "Kugelstoßen mache ich noch nicht so lange. Ich muss die Technik noch verbessern."
Eigentlich ist sie Geherin und Läuferin. 1935 wurde sie schwedische Meisterin im Gehen. Als sie mit dem Seniorensport in den 50-er Jahren begann, war sie eine echte Vielstarterin und hätte am liebsten an allen Wettkämpfen teilgenommen. Aber das geht nicht mehr. "Da macht das Herz nicht mehr mit", sagt sie. Insbesondere die längeren Strecken machen ihr inzwischen zu schaffen. So hat sie ihr Wettkampfprogramm zurechtgestutzt und startet dieses Mal nur in vier Disziplinen. Ansonsten hat sie mit dem Älterwerden nur ein Problem. Nora Wedemo lacht, beugt sich nach vorne und gewährt einen Blick auf die Hörhilfen in ihren Ohren. "Sogar den Startschuss habe ich schon überhört", erklärt sie augenzwinkernd. Sie lebt in Kila in Mittelschweden und trainiert immer noch sechs Mal in der Woche. Und am siebten Tag? "Wettkampf. Natürlich." Auf zukünftige Meisterschaften angesprochen, grinst Nora Wedemo, faltet die Hände zum Gebet und blickt gen Himmel. "So Gott will, bin ich bei den nächsten Senioren-Weltmeisterschaften in Puerto Rico dabei." Ursprünglich wollte sie mit 90 aufhören. Aber Kugelstoß und Diskuswurf, das kann sie sich noch ein paar Jährchen vorstellen: "Die technischen Disziplinen sind nicht so belastend. Und man kann sich während des Wettkampfs unterhalten. Das ist einfach neuer."

Das wird Robert Sattler, ältester Teilnehmer in Potsdam, ähnlich sehen. Wenn man ihn den Diskus werfen sieht, mag man es kaum glauben: Der Mann wird am 11. November 93 Jahre alt. Dann hat der Ludwigshafener gute 80 Jahre Leichtathletik hinter sich. Und nicht nur das: In jungen Jahren war er ein passionierter Bergsteiger, hat das Matterhorn und den Mont Blanc erklommen. Später dann so manchen Gipfel in der Seniorenleichtathletik. 25 Medaillen hat Robert Sattler seit 1977 in Göteborg gewonnen, als er das erste Mal bei einer Seniorenweltmeisterschaft dabei war. Sein größtes Erlebnis: die Weltmeisterschaften im südafrikanischen Durban 1997. Auch für Potsdam hatte er sich Großes vorgenommen. Aber zunächst ärgerte er sich über die Ausschreibung: "Hier muss ich als über 90-Jähriger in der M85 antreten, gegen Leute, die acht Jahre jünger sind. Da hat man ja gar keine Chance." Bei Weltmeisterschaften sei das anders, da gingen die Fünfjahresklassen bis M95. Dann lacht er. "Warum aufregen? In meiner Altersklasse haben wir eine tolle Kameradschaft und Hilfsbereitschaft. Das ist wichtiger als Medaillen." Zumal er in der M90 einer von zwei Startern gewesen wäre. Und von Wettkämpfen ohne Konkurrenz hält er nichts: "Da ist ja der Witz weg." Auch die anderen Unwägbarkeiten im Leben eines Athleten jenseits der 90 steckt er locker weg: Ja, die Anfahrt sei schon recht strapaziös gewesen. Und im Hotel Mercure, wo er untergebracht sei, würde morgens früh schon geklopft, gehämmert und gebohrt. Aber wer mit 16 Jahren angefangen hat zu arbeiten und seinen Job als technischer Direktor einer Maschinenfabrik erst mit 70 aufgegeben hat, den kann so etwas nicht aus der Ruhe bringen.
Beim Diskuswurf hat es zu einer weiteren Goldmedaille gereicht. Die Klasse M90 gab es schließlich doch, und dort gewann er mit 14,85 m vor dem 91 Jahre alten Schweden Eskil Bergquist, dessen Wettkämpfe seine Landsfrau Nora Wedemo übrigens genauso begeistert verfolgt wie er die ihren.

Senioren-Leichtathletik ist anstrengend. Nicht nur für Athleten, sondern auch für Zuschauer. Denn es ist schwierig, den Wettbewerben zu folgen, wenn an einem Tag 15 Finals über 300 und 400 m Hürden auf dem Zeitplan stehen. "Ist das jetzt der Endlauf in der M65?", fragt ein älterer Herr auf der Tribüne. "Nein", antwortet sein Nachbar, "der war schon. Das muss jetzt M60 sein." Ein anderer zückt das Programmheft und nickt. Recht haben sie. Das Finale der M65 ist gerade vorbei und der Zweitplatzierte, Dr. Günter Ortmanns, spricht schon mit ein paar Freunden über den Verlust seines Vorsprungs auf den letzten Metern. Und bestätigt die These von der größeren Gelassenheit bei den Älteren. "Ach, ich gönn' ihm den Sieg", sagt er, knurrt und grinst.

Wenig später fällt der Startschuss für das 300-m-Hürden-Finale bei den 60- bis 65-Jährigen. Schon nach der ersten Hürde ist klar: Der Läufer auf Bahn drei wird gewinnen. Guido Müller von der LG 90 Kreis Ebersberg, Handelsvertreter für italienische Schuhe, überfliegt förmlich die sieben Hindernisse. Nie hat man das Gefühl, dass er straucheln könnte - so ausgefeilt wirkt seine Hürdentechnik. Er selbst ist mit dem Lauf nicht ganz zufrieden. "Läuferisch war's okay, hürdentechnisch nicht so doll," Er verlangt immer noch viel von sich. Kein Wunder Schon seit seiner Jugend ist er Hürdenläufer. Beinahe hätte er es zu den Olympischen Spielen in Tokio geschafft. Fünfter war er 1964 im entscheidenden Lauf Vierter hätte er sein müssen. 51,3 s stehen für ihn über 400 m Hür-den in den Bestenlisten. In Potsdam gewinnt der 64-Jährige mit ausgezeichneten 43,22 s. Viereinhalb Sekunden vor dem Zweitplatzierten überquert er die Zielli-nie. "Das liegt an der Schwäche der Gegner", erklärt er seine Überlegenheit und fügt unbescheiden hinzu: "Seit 20 Jahren mache ich Senioren-Leichtathletik, und eigentlich habe ich immer gewonnen."
Was treibt einen ehemaligen Spitzenathleten an, wenn eigentlich schon vorher feststeht, dass ihm niemand folgen kann? "Gewinnen spielt schon eine Rolle. Außerdem liebe ich den Wettkampf", sagt Müller. Ein Ziel zu haben, sich nicht hängen zu lassen - das sei wichtig. Die langfristige Vorbereitung schon im Winter auf die Wettkämpfe im Sommer gehöre einfach dazu. Solange er gesund ist, will er weitermachen. "Wenn es nicht mehr gut aussieht, dann sollte man aufhören." Das kritisiert er bei anderen: "Man sollte nicht in jeder Disziplin mitmachen wollen. Wenn einer die 100 m läuft, dann kann er sich nicht auch noch auf die 10.000 m vernünftig vorbereiten. Und über die Hürden zu klettern, wie in mancher Altersklasse zu beobachten, ist nicht Sinn der Übung. Das schadet der Seniorenleichtathletik."
Warum machen eigentlich so wenige ehemalige Klasse-Athleten mit bei den Senioren-Europameisterschaften? "So einfach ist es eben doch nicht. Man muss schon etwas tun, wenn man hier vorne dabei sein will. Und die alten Cracks lassen sich natürlich ungern schlagen."

Dennoch sind in Potsdam einige von ihnen dabei. Wie Stefan Burkart aus der Schweiz, der in der Klasse M40 die 100 m in 10,92 s gewinnt, eigentlich 10,70 s laufen wollte, 1992 und 1996 bei Olympischen Spielen dabei war und immer noch den Bob des Schweizer Spitzenpiloten Fredi Steinmann anschiebt. Oder Ilona Briesenick. 22,45 m hat die Lokalmatadorin die 4 kg schwere Eisenkugel ein-mal gestoßen, am 17. Mai 1980 in eben diesem Stadion am Luftschiffhafen zu Potsdam. Das Gelände gehörte damals noch dem ASK Vorwärts Potsdam, einer der Talentschmieden der DDR. Ilona Briesenick hieß Ilona Siupianek und die Zeiten waren andere. Indes: Die 22,45 m sind immer noch deutscher Rekord. Dieses Mal wird die Olympiasiegerin von Moskau mit 11,85 m Zweite in der Klasse W45. Dass die Niederländerin Tine Schenkels ein wenig weiter stieß, ist an diesem Tag zweitrangig. "Das war mein erster Wettkampf seit vielen Jahren - und es hat Spaß gemacht." Toll sei es, viele alte Bekannte zu treffen. Die standen am Ring und feuerten die 45-Jährige begeistert an. Das ist auch ein paar Tage später nicht anders, als Ilona Briesenick erneut antritt. Dieses Mal im Diskuswurf. Zwar reicht es nur zu 34,32 m und Platz sechs, aber das tut der guten Stimmung keinen Abbruch. Diskus geworfen wird auf einer Wiese neben dem Stadion. Da, wo die Würstchenbuden stehen. Wo man im Biergarten sitzt und die entsprechende Seligkeit genießt. Dort steht Uwe Hohn und schaut den Diskuswerferinnen zu. Der Mann, der den alten Speer einmal 104,80 m weit warf, wundert sich: "Dass die Ilona hier antritt, überrascht mich schon." Er will und kann den Speer nicht noch einmal in die Hand nehmen und werfen. Auch nicht aus Jux und Dollerei. Der Bandscheibenschaden, den er sich 1984 im Trainingslager auf Kuba zugezogen hatte, lässt das nicht zu. "Das Kapitel ist abgeschlossen." Auch so manch anderen großen Athleten aus den glorreichen Zeiten des ASK Vorwärts Potsdam kann man an diesen Tagen leibhaftig treffen: Udo Beyer, den Kugelstoßolympiasieger von 1976, und Olaf Beyer, den Europameister von 1978 Ober 800 m. Der Kugel-Beyer schaute nur zu, der Läufer-Beyer startete in Potsdam über 800 m, musste aber verletzungsbedingt aussteigen.

Nicht so Diana Gansky, Angestiftet von ihrer Freundin Petra Wersch hat die Weltmeisterschaftszweite von 1987 und Zweite der Olympischen Spiele von Seoul wieder zu den Metallscheiben gegriffen und großen Spaß gehabt, - im Training. Jetzt aber wird es ernst. "Nun gut das hier sind keine Olympischen Spiele, das sehe ich ganz locker", sagt sie. Aber eine Medaille soll's dann doch sein. Freundin Wersch hat's vorgemacht und in der W40 kurz zuvor Bronze geholt. Dafür hat sie mit ihren Disziplinkolleginnen so lange gebraucht dass die W35 mit Diana Gansky ins vom Flutlicht beleuchtete Stadion ausweichen müssen. Nichts ist's mit den Biertischen an der Wiese neben dem Stadion. Vor ihrem letzten Versuch liegt sie auf Rang zwei. Ihr einstiger Trainer Lothar Hillebrand steht am Geländer und weist per Zeichensprache auf Fehler hin. Fast so wie früher. Die Physiotherapeutin macht alles richtig; wirft 44,24 m und holt sich den Europameistertitel in der W35. Und die ganze alte Garde samt Anhang feiert. "Familienfest in Potsdam. Auferstanden aus Ruinen", kalauert ein Unbeteiligter. Ganz schön rüstig diese Ruinen.

Quelle: Leichtathletik-Magazin www.leichtathletik.de